Warum Akkordeschrammeln pädagogisch wertvoll ist ... Teil 2

Schätzungsweise 99% aller Gitarrenklänge, die wir im Musikalltag hören und sehen, sind mehrstimmige Akkordanschläge. Fast alle Autodidakten versuchen instinktiv als erstes ein paar Akkordwechsel hinzubekommen. Aber der herkömmliche professionelle Anfangsunterricht negiert das. Die Argumente dafür mögen plausibel sein, aber es lassen sich mindestens genauso viele Gegenargumente finden. Und in der Praxis zahlt sich eine Orientierung auf dem Akkordspiel aus. Mehr Sicherheit, mehr Erfolg, mehr Spaß, weniger Abbruch.

Was spricht für die Rhythmusgitarre als Einstiegsthema in der Gitarrenausbildung?

Punkt 1: Rhythmus ist nicht erst in der populären Musik das A und O. Wir haben eine begrenzte Anzahl von Tönen, aber eine unbegrenzte Anzahl von Rhythmen. Wenn ich einem Schüler eine Skala aufschreibe, spielt er deswegen noch lange kein gutes Solo, selbst wenn er die zur Harmonie passenden Töne genau trifft. Das Solo klingt erst dann gut, wenn der Schüler abwechslungsreiche Rhythmen findet. Die guten Improvisateure sind in erster Linie gute Rhythmiker, die blitzschnell interessante und schlüssige Rhythmen generieren können.

Punkt 2: Harmonien. Landläufig gilt die Melodie als das zentrale Glied der Musik. Dem ist aber nicht so, denn die Tonskalen leiten sich aus den Gesetzen des Zusammenklangs ab. Die Melodie ergibt sich aus den jeweils am deutlichsten klingenden Tönen von Harmonien.
Ein Beispiel: Die Schüler kommen reihenweise durcheinander, wenn sie eine Melodie geübt haben, aber deren harmonischen Zusammenhang nicht kannten. Das ist so, weil sie einer Melodie innerlich automatisch einen harmonischen Kontext zuordnen, der dann meist nicht mit der konfrontierten Harmonik übereinstimmt.

Meine Behauptung: Durch das Spielen von Harmonien wird der musikalische Sinn effektiver geschärft als durch das Melodiespiel. Demzufolge ist das Aneinanderreihen von Akkordgriffen keine populäre Trivialität von Autodidakten. Es ist eine geniale Therapie für alle musikalischen Schwächen.

Und gleichzeitig ist das "Klampfen" eine Art der Versicherung, dass es im weiteren Verlauf der Ausbildung nicht zu einem totalen Zusammenbruch kommt, nach dem dann gar nichts mehr übrigbleibt ( nach dem Motto: "Ich hatte mal als Kind 5 Jahre Gitarrenunterricht, kann aber nicht einmal ein einfaches Volkslied begleiten.").

Warum aber fangen die seriösen Gitarrenschulen nicht mit Akkordspiel an? Was hält die ehrwürdigen Gitarrenpädagogen von dieser Methode ab?

Das erste große Problem sind die Noten - sozusagen die heilige Kuh aller gestandenen Musiker. Ein durchgeschlagener Akkord würde die Notation von durchschnittlich 5 Noten übereinander erfordern. Das geht am Anfang didaktisch beim besten Willen nicht. Gemäß dem Leitspruch - Zuerst die Noten, dann die Musik – quält sich der Schüler durch Hilfslinien und Vorzeichen, bis er nach ein paar Jahren endlich einen Akkord lesen darf.
Fraglos ist eine Notation der Musik im Unterricht unerlässlich. Doch warum muss es unbedingt das herkömmliche Notensystem sein? Die rhythmische Notation mit Akkordsymbolen reicht ja erst einmal zu. Das Problem bei der Umwandlung von Noten in Musik liegt eh meist bei der zeitlichen Komponente, sprich Rhythmus. Für die Entwicklung eines brauchbaren Notenspiels ist es günstiger, wenn sich der Schüler am Anfang vornehmlich auf den Rhythmus konzentrieren kann.

In der herkömmlichen didaktischen Denkweise wird das gleichzeitige Umgreifen von mehreren Fingern für den Anfang verworfen: Es ist theoretisch schwieriger als das Melodiespiel, bei dem ja meist nur jeweils ein Finger für den nächsten Klang bewegt werden muss.
Richtig. Die motorische Leistung bei einem Akkordwechsel ist größer als beim einstimmigen Spiel. Ein Akkordwechsel benötigt mehr Zeit als ein Tonwechsel. Da diese Zeit vom jeweils letzten Notenwert stillschweigend abgezogen werden muss, ergeben sich schnell Timingprobleme.
Deswegen ist eine bestimmte Reihenfolge beim Erlernen der Akkorde und Wechsel nötig. Ich habe sie in meinem Lehrprogramm wohl bedacht. Und es funktioniert besser, als man glaubt. Auch schon bei Kindern.
Allerdings darf man nicht vergessen, dass beim Melodiespiel viel öfter umgegriffen werden muss als beim Akkordspiel. Auf den Gesamtablauf eines Stückes gesehen, ist das Melodiespiel damit in Summe anstrengender.

Nächstes Argument der "Melodiker": Rhythmusspiel ist monoton, erst recht wenn es keine Melodie dazu gibt.
OK, dafür könnte ja die moderne Unterhaltungselektronik herhalten. Smartphone, Computer, CD-Player, Loopstation. All diese Möglichkeiten sollte man nutzen. Dem Schüler wird von Anfang an die musikalische Situation simuliert.
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Das Mitsingen zur Gitarre ist zumindest bei komplexeren Rhythmen schwierig, das muss man zugeben. Aber das kann bzw. muss im Unterricht der Gitarrenlehrer übernehmen. Das darf dem Gitarrenlehrer nicht peinlich sein.  ;-)

Desweiteren geht es um das Beharren auf dem klassischen Fingeranschlag im Anfangsunterricht. Dazu folgendes: Wenn man auf der Straße Gitarrenunkundige auffordern würde, das Gitarrespielen pantomimisch darzustellen, würden wohl alle als Anschlagsform der rechten Hand eine Pendelbewegung wie beim Plektrumanschlag verwenden. Ist es dann nicht ein wenig paradox, wenn die Anfänger im Anfangsunterricht mit einer völlig anderen Spielweise konfrontiert werden?

Deswegen schlägt man bei mir fürs erste mit Plektrum an. Die klassische Fingerhaltung kann der Schüler dann lernen, wenn er sich dafür interesssiert.
Nebenbei bemerkt: Es kommen auch Leute zu mir, die ganz konkret die klassische Gitarrentechnik erlernen wollen. Oft haben sie sich mit dem Akkordspiel I. Lage schon beschäftigt und wollen mehr. Allerdings wechseln diejenigen, die sich die Konzertgitarre leichter vorgestellt haben, später auch gerne wieder zur "Klampfe" zurück.

Mir fällt kein Zacken mehr aus der "Gitarristenkrone", wenn ich mit den Schülern gemeinsam Reinhard Mey und Nena singe. Es klingt am Ende auch besser als die Pflichtklassik. Die Schüler lernen mehr, auch wenn es nicht in Noten, Tonleitern und Schwierigkeitsstufen messbar ist. Für die Wirkung von Musik ist es enorm wichtig, dass der Macher nicht überanstrengt wird. Musik muss locker sein. Das Erlebnis dieser Leichtigkeit ist beim konservativen Ansatz wesentlich unwahrscheinlicher. 
Ich bewerte Musik vor allem danach, ob sich eine gewisse Energie vom Spieler auf den Zuhörer überträgt. Wenn die ganze Energie in Konzentration und Versagensangst über ein künstlerisch anspruchsvolles Stück gesteckt wird, bleibt am Ende nichts übrig, was den Zuhörer erreichen könnte. Haben wir damit der Kunst am Ende gedient?
Nein, im Gegenteil.

Das Akkordeschrammeln ist aus methodischer und didaktischer Sicht gesehen weitaus besser als sein Ruf in den Lehrerkreisen. Gitarrenunterricht muss auf die aktuelle Realität des Instrumentes Rücksicht nehmen, um nicht ins Leere zu laufen. Die Realität besagt, dass die Gitarre als Rhythmus- und Harmonieinstrument verwendet wird. Darauf sollte moderner Gitarrenunterricht eingehen. Am besten gleich am Anfang, denn die Erwartungen der Schüler an Spielweise und Klang werden durch die alltägliche Hörerfahrung vorgeprägt. Das habe ich bereits 6- bis 8-jährigen festgestellt. Eine Enttäuschung dieser Erfahrung kann schwerwiegende Probleme mit sich bringen, was letztlich zum pädagogischen Misserfolg, sprich Abbruch, führt.

Warum Akkordeschrammeln pädagogisch wertvoll ist ... Teil 1

Auch ein Lehrer muss lernen. Zum Beispiel muss er lernen, mit dem Istzustand der Musikalität der Anfänger umzugehen. Wenn man die Talenteshows im Fernsehen oder virale Videos bei Youtube sieht, glaubt man, dass immer mehr Menschen immer bessere Musiker sind. Doch meine Unterrichtspraxis zeigte mir von Anfang an ein anderes Bild. Ich musste ein wenig umlernen.  

Bis zu einem gewissen Zeitpunkt meiner Gitarrenlehrertätigkeit habe ich zu jenen gehört, die vom Akkordeschrammeln mit offenen Akkorden in der I. Lage als festem Bestandteil des Unterrichtes nichts hielten. Stattdessen wollte ich den Schülern von Anfang an die Kunst des klassischen Gitarrenspiels oder des virtuosen Solospiels auf der E-Gitarre beibringen.
Mit zunehmender Unterrichtspraxis jedoch wurde ich das Gefühl nicht mehr los, gegen eine gewisse Schwerkraft zu arbeiten. Ich gestand mir ein, dass das von mir vertretene gitarristische Bildungsideal und die Realität irgendwie nicht recht zueinander passten. Außerdem plagten mich Gewissensbisse, dass ich manchem hoffnungsfrohen Anfänger die Lust aufs Musizieren ein für allemal mit einer Form von falschem Ehrgeiz verdorben habe.

Bis dahin reichten mir die nicht ganz unüblichen Ausreden. Etwa, dass die Schüler nicht genug üben, dass sich die Eltern mehr dahinter "klemmen" müssten oder dass dem modernen Menschen der Sinn für das Schöne und die Kunst verlorengegangen ist.
An wem liegt es, wenn die Fische nicht beißen? Am Angler, an den Fischen oder am Köder?

Ich tippte auf letzteres. Ich begann, mir mein Unterrichtsmaterial selber zu erstellen. Meine grundsätzliche Einsicht war: Um Musik zu machen, muss man kein Künstler sein. Die Lehrmethoden im Instrumentalunterricht sollten nicht ( wie immer noch weitverbreitet) an einer künstlerischen Laufbahn sondern an der praktischen musikalischen Lebenswelt ausgerichtet werden.

Gestandene Gitarrenlehrer mit Referenzen werden vielleicht dagegen halten, dass der Instrumentalunterricht von jeher etwas Elitäres war. Wille, Talent und Übung gehören einfach dazu. Das mag historisch gesehen richtig sein, aber die Zeiten haben sich geändert. Musikhören und Musikmachen sind mit der Entwicklung der Unterhaltungsmedien zwei getrennte Dinge geworden. Das war noch vor 100 Jahren ganz anders. Wo damals Musik erklang, musste auch jemand da sein, der sie erzeugte.

Ein für den Musikpädagogen ganz bedeutsamer Umstand ist, dass heutzutage weit weniger gesungen wird als früher. Kirche, Schule, Feste, Kneipen, Militär - Singen war einst so alltäglich wie das Sprechen. Früher haben die Leute bei der Arbeit gesungen, heute stellt man auf der Baustelle das Radio an.

Im Grunde kann jeder singen, zumindest mitsingen. Genauso wie meiner Meinung nach jeder normale Mensch auf der Gitarre ein paar Akkorde zu einem Song spielen könnte. Dafür braucht man nicht einzelne Noten und korrekte Fingerhaltung zu lernen. Und eigentlich bräuchte man dafür auch keinen Gitarrenunterricht – wenn es eine einigermaßen gut entwickelte Musizierkultur in der Gesellschaft gäbe. Doch da ist es nicht zum Besten bestellt.
In musikalischen Kulturen saugen die Kinder musikalische Grundfertigkeiten sozusagen mit der Muttermilch auf. Das ist bei uns anders geworden. Ein Gitarrenschüler bringt heute zwar jede Menge Hörerfahrungen mit, aber es mangelt an elementarster praktischer Vorbildung.
Der Musikunterricht an Schulen scheint mir immer ambitionierter zu werden, dafür aber leider immer wirkungsloser. Extrembeispiel (kein Witz!): Am Gymnasium wird von den Schülern gefordert, vierstimmige Sätze zu erarbeiten. Im Gitarrenunterricht haben diese Schüler jedoch keinerlei Gefühl  für den Wechsel von Tonika und Dominante bei einem Volkslied mit zwei Akkorden. Ein himmelweiter Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Bildung - übrigens nicht nur im Fach Musik.  

Konkret sehe ich vor allem Schwächen im Rhythmusgefühl. Die meiste Musik, die wir heute hören, ist rhythmisch klar strukturiert. An der Ampelkreuzung stehen Autos aus denen hundertstelgenaue Bassdrumbeats dröhnen. Der HipHop teilt unsere Sprache in exakte rhythmische Werte, wir alle hören das täglich ... gewollt oder ungewollt. Trotzdem mangelt es vielen Schülern am Anfang ihrer Ausbildung am simpelsten Taktgefühl. Das ist paradox, denn wenn im Radio den ganzen Tag 4/4- Drumbeats erklingen, könnte man meinen, dass der durchschnittliche Anfänger auch ohne Mitzählen die Eins finden. Doch dem ist nicht so. Belehren Sie mich eines besseren ...

Nächster Problempunkt wäre das harmonische Empfinden. Wann wechselt bei einer einfachen Melodie die Harmonie?
Ein erfolgreicher Popproduzent kann es sich ja heute kaum noch leisten, mehr als 4 Akkorde in einem Song zu verwenden. Also würde man auch hier tippen, dass die von klein auf beschallten Menschen wenigstens 2 dieser 4 Akkorde innerlich empfinden könnten. Aber wie gesagt - weit gefehlt. Das muss in den meisten Fällen gelernt und geübt - und in manchen Fällen auch erstmal sein gelassen - werden.

Ich weiß nicht, ob es Forschungen darüber gibt, wie sich die in den Instrumentalunterricht mitgebrachten Fähigkeiten in den letzten Jahren oder Jahrzehnten entwickelt haben. Es ist eigentlich auch egal, denn ich möchte keine kulturpessimistische Diskussion draus machen. Musik ist nicht das wichtigste. Aber: Fakt ist, dass es die Probleme sind, mit denen ich mich rumschlage. Oder besser gesagt - rumgeschlagen habe.

Wir kommen jetzt nämlich auf den Ausgangspunkt zurück: Gerade das von den Großmeistern verachtete Griffeklampfen ist ein sehr wirksames Rezept, um dem heutigen Durchschnittsschüler den Einstieg ins Musikmachen effektiv zu ermöglichen.
Wir schlagen mit einer Klappe nicht nur mehrere sondern alle Fliegen, die es im erfolgreichen Anfangsunterricht zu schlagen gibt. Das klingt euphorisch.

Wie und warum, das erkläre ich im nächsten Blogeintrag ...