Was hat Orthorexie mit Musikpädagogik zu tun?

Haben Sie schon mal was von Üborexie gehört? Nein? ... ich auch nicht,. Den Begriff habe ich mir gerade ausgedacht als Pendant zur aktuell um sich greifenden Orthorexie, der Sucht nach absolut gesundem Essen. Die Parallele zur Musikwelt: Für möglichst effektive, didaktisch wohlüberlegte Übungen, interessieren sich Profimusiker -  vom Schüler werden sie konsequent ignoriert, weil sie meist nach nichts klingen. 

Ernährung ist eines der Topthemen unserer Zeit hierzulande. Vor ein paar Jahren, als der Bio-Lebensmittel-Trend in der Mitte der Gesellschaft ankam, wurde desöfteren argumentiert, dass Bioprodukte viel gesünder seien. Nicht nur, weil sie keine Spuren von Pestiziden enthalten, sondern weil sie nährstoff- und vitaminreicher als herkömmliche Produkte seien. Kein Zweifel, dass es so ist, aber als Argument kam mir das gegenüber den unwiderlegbaren ethischen und ökologischen Argumenten schon immer etwas komisch vor. 

Ich fragte mich: Wenn ein konventionell erzeugter Apfel z.B. ein Viertel weniger "Gesundes" enthält, wäre es doch auch vorteilhaft, noch einen halben konventionellen Apfel mehr zu essen. Das wäre dann sogar noch gesünder. Wobei es für die meisten Leute vermutlich schon vergleichsweise gesund wäre, überhaupt einen Apfel zu essen. Denn Obst und Gemüse kann man ja bekanntlich nicht genug essen. 
Ähnlich läuft die Diskussion um die Frage, ob man Gemüse kochen sollte oder nur roh essen wegen des Vitaminverlustes beim Zerkochen; oder ob eingefrostetes Gemüse noch genug Vitamine hat usw.. Wegen ein paar Milligramm mehr oder weniger entstehen in diesen Fragen Dogmen. Das geht soweit, dass man Lebensmittel und Speisen wegen ein paar fehlender guter Milligramme meidet, verdammt und verunglimpft. Dies noch vor dem Hintergrund, dass der Körper unabhängig von unseren Vorstellungen entscheidet, welche Stoffe er überhaupt in welcher Menge aufnimmt und nutzt.
Mittlerweile existiert ein Begriff für psychisch auffällige Beflissenheit um gesundes Essen - Orthorexie

Was hat diese Diskussion mit Musik, Gitarre, Didaktik usw. zu tun?

Nun, der Aufhänger wäre meine These: Minderwertiges konventionelles Gemüse ist immer noch besser als gar kein Gemüse. Und in Analogie ließen sich daraus schöne Leitsätze der Musikpädagogik basteln, z.B.: 

Minderwertiges Musikmachen ist immer noch besser als keine Musik zu machen. 

Falsches Üben ist immer noch besser als gar nicht zu üben. 

Nicht zu üben ist immer noch besser als nicht mehr zum Unterricht zu kommen (auch weil es nicht unendlich viele fleißige Schüler gibt). 

Der Maßstab des Profimusikers oder des Musikpädagogen ist einer, bei dem es tatsächlich um ein paar Milligramm mehr oder weniger geht, genauso wie es beim Leistungssportler um die Optimierung sämtlicher Leistungsfaktoren geht. Aber dem normalen Musikschüler ist diese Herangehensweise völlig fremd. Hier kommt es zu vielen Missverständnissen zwischen Lehrer und Schüler. 

Hocheffektive Technikübungen beispielsweise dürften für den normalen Schüler ineffektiv sein, weil sie meist nicht viel mit schönem Klang zu tun haben und der Schüler wenig Lust verspürt, sie regelmäßig zu machen. Sämtliche Lerngegenstände werden am besten gelernt, wenn sie möglichst oft wiederholt werden. Je grässlicher eine Übung aber ist, desto niedriger ist die reale Wiederholrate in der Schülerschaft. Profimusiker haben einen Riesenspaß, sich Fingerbrecher auszudenken, sich an ihnen abzuarbeiten und sie ihren Schülern weiter zu empfehlen. Schüler aber wiederholen lieber weltbekannte Viertakter unendlich oft als auch nur einmal "Fingerklimmzüge", "Spinnen" oder sonstige hochdosierten Häppchen zu probieren. Eine Übung wird allerhöchstens akzeptiert und gemacht, wenn sie dazu dient, einen beliebten Viertakter zu lernen oder besser zu spielen.  

Ähnlich kleinlich wie bei der Vitaminmenge in verschiedenem Obst kann man auch bei musikalischen Aspekten wie Dynamik, Timing und Tongebung sein. Manchmal sagen anspruchsvolle Pädagogen, dass ein vom Schüler gleichförmig und ausdrucklos gespieltes Stück keine Musik und also nichts wert ist. Das ist nach all meiner Erfahrung jedoch ein reines Luxusproblem. Jedes im Zieltempo durchgespielte Stück ist ein Erfolg, den man dem Schüler mit nichts kleinreden sollte. Genauso wie es keine ungesunden Äpfel gibt.  

Ein Schüler entwickelt seinen Leistungswillen und seinen Anspruch von selbst, und zwar dadurch, dass er Spaß durch Erfolg und Erfolg durch Spaß hat. Dann kann man durchaus auch mal über Effektivität nachdenken, denn dann trägt sie zum Erhalt der Spaßmenge bei. In den meisten Fällen jedoch sollte meiner Meinung nach der klangliche Weg des Anreizes gewählt werden: Bekanntes, Schönes, Spannendes und Leichtes. Zehn leicht verdauliche Sachen bringen den Schüler weiter als eine schwergewichtig komprimierte, an der ihm die Lust vergeht. 

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